Seiten

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Das Missy Magazine begrüßt zum Kongress „Das flexible Geschlecht. Gender, Glück und Krisenzeiten“

Wir haben ein mehrköpfiges Team aus Autorinnen und Bildproduzentinnen zusammengestellt, das den Kongress laufend mitdokumentiert. Mit Interviews, Veranstaltungsberichten, Fotostrecken und Videos begleitet dieser Blog die KongressteilnehmerInnen bei der Frage der Interdependenz zwischen Ökonomie und Genderpolitiken.

Wer will sich da noch beschweren? Wir haben eine Bundeskanzlerin, einen schwulen Außenminister, eine First Lady mit Tattoo und eine Verteidigungsministergattin, die ihren adligen Gemahl angeblich auf der Love Parade kennen gelernt hat und Dinge über machistische Aggro-Rapper sagt, die wir auch unterschreiben würden. Wir können Gender Studies studieren, unsere Berufe frei wählen, so viel Gehalt fordern, wie wir uns trauen, den Partner in die Vätermonate schicken, und unter Umständen dürfen wir sogar abtreiben. So viel Emanzipation und Freiheit waren noch nie, und trotzdem herrscht unter Frauen, feministischen Männern, MigrantInnen, Queers, Transpersonen, Behinderten und den sonstwie Marginalisierten keine Euphorie. Es drückt vielmehr eine schwere Depression von oben, die von der globalen Finanzmarktkrise nur noch verschärft wurde.

Denn die Freiheit, frei zu sein, meint in überwältigend vielen Fällen maßgeblich die Freiheit, unsicher zu sein: Arm zu sein, ununterstützt zu sein, dauernd auf der Suche und in keiner Form abgesichert zu sein. Die "Forderungen nach Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwaltung und das Versprechen einer grenzenlosen Freisetzung der menschlichen Kreativität", die Boltanski/Chiapello als Motor der studentischen "Künstlerkritik" der 1960er Jahre identifiziert haben, sind längst, wie das AutorInnenpaar in "Der neue Geist des Kapitalismus" nachgezeichnet hat, zu (Selbst-)Optimierungsanforderungen in managerialen Idiologemen geworden. "Das unternehmerische Selbst ist ein Leitbild" schreibt Ulrich Bröcklig in seiner gleichnamigen Untersuchung ironisch, und wir alle kennen die damit einhergehenden Schlagworte zur Genüge: die von der Prekarisierung, von der Generation Praktikum, vom Kreativzwang, von der Ich-AG, von der Dauer-Flexibilisierung und vom Burn-Out. Besonders Frauen, denen stereotyp Eigenschaften wie Empathie, Multitasking-Fähigkeit, Leidensbereitschaft und Verzicht zugeschrieben werden, werden nun verstärkt als "Das flexible Geschlecht", das mit diesen neuen Anforderungen qua ihnen eingeschriebener Geschichte besonders gut klar kommt, angerufen.

Die Frage, die die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem diesem gewaltigen Themenkomplex gewidmeten Mammut-Kongress gleich im Eingangs-Statement aufwirft: "Sind emanzipierte und flexible Menschen automatisch glücklich?" möchte man daher reflexhaft mit einem trotzigen "Nein, auf keinen Fall!" beantworten. Doch es lohnt sich, noch einmal genauer hinzusehen. Und dann vielleicht differenzierter zu erkennen, wer wie wo genau von der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche betroffen ist. Und festzustellen, dass die Intersektionalität von Geschlecht, Klasse und Ethnie an manchen Stellen ganz massive Unterdrückungspotenziale addiert.

Daher ist die Vielschichtigkeit der beeindruckenden 11 Panels, die zudem alle interessant und ausgewogen besetzt sind, besonders zu begrüßen. Während es in den ersten drei Panels vor allem um Fragen von wirtschaftlicher oder politischer Macht und Gender geht, dreht sich in den den drei weiteren Diskussionsgruppen des Freitag Vormittags alles um Medien-Images, Bildung und Migration. Auf den fünf Podien des Nachmittags steht die Biopolitik im Vordergrund, wenn Fortpflanzungstechnologien, Pornokultur, Intersex-Issues, Arbeitsaufteilung in Familienverbänden und die Ökonomisierung der Gefühle diskutiert werden. Spannend wird vor allem zu verfolgen sein, ob tatsächlich umfassend und kritisch strukturelle Ausschluss- und Benachteiligungsmechanismen benannt werden, oder ob es der Mehrzahl der Beteiligten darum gehen wird, disparate Positionen und Entwürfe möglichst effektiv in ein Diversity Management einzupassen. Es liegt an den TeilnehmerInnen, für deren Beiträge extra viel Räum gelassen wird, die Diskussionen mitzugestalten - also erscheint zahlreich und redet euch die Köpfe heiß.

Sonja Eismann